Mehr als nur an bunten Schirmen hängen

Gleitschirmfliegen ist populär wie nie / An der Teufelsmühle in Loffenau oder am „Merkur“ in Baden-Baden finden Gleitschirmfans ideale Bedingungen

Den Schirm hat er hinter sich auf dem Boden ausgebreitet. Jetzt heißt es: ruhig werden und warten. Eine leichte Windböe streift sein Gesicht, schnell noch einen Blick auf den Windsack, der sich bereits leicht mit Luft füllt. Dann ein, zwei Schritte nach vorne. Unter ihm der Abgrund. Schon fliegt er los. Unendliche Freiheit. Ralf Baumann fliegt seit zehn Jahren Gleitschirm. „Der Start ist ein ganz intuitiver Moment“, beschreibt er die Sekunden, bevor er von seinem Schirm in die Luft getragen wird und kurz darauf mit rund 35 Stundenkilometern an den Hängen des Nordschwarzwaldes entlanggleitet.

„Das Gleitschirm fliegen ist die leichteste Art, den Boden unter den Füßen zu verlieren”, sagt der erfahrene Gleitschirmpilot. Dennoch hat er von Anfang an Höhenangst – bis heute. „Die wenigsten Piloten sind beim Start völlig tiefenentspannt“, sagt Baumann „Der Mensch hat über Hunderttausende von Jahren gelernt, nicht an den Abgrund zu gehen. Diese ganz natürliche Höhenangst tragen wir alle in uns und sie ist ganz normal.“ Für viele ist gerade das der Kick: Die Angst überwinden – und den Schritt ins Nichts wagen. Ein Moment, in dem immer Ungewissheit mitschwingt. Das Vertrauen darauf, dass der Schirm trägt und man nicht fällt. Und in der Tat: Man fällt nicht. „Der Schirm gibt einem sofort Auftrieb, so dass man eigentlich nur einen oder wenige Schritte nach vorne macht, bevor man sanft in die Luft gleitet.“ 90 Prozent der Gleitschirmpiloten sind nach Einschätzung von Baumann Männer. „Die meisten sind zwischen 40 und 50.“

Seit 2002 starten die Piloten des Gleitschirmvereins Baden e.V. vom Baden-Badener Hausberg aus, dem „Merkur“. Sturm Lothar hat vor mehr als 20 Jahren eine erste natürliche Schneise geschaffen. Inzwischen starten hier 3.000 bis 5.000 Gleitschirmflüge jedes Jahr.

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Leonardo da Vinci, Otto Lilienthal und Francis Rogallo haben den Traum vom Fliegen mit ihren erdachten Fluggeräten vorbereitet. Kaum ein anderer Luftsport vermittelt den Vogelflug und intensives Naturerleben besser als das motorlose Drachen- und Gleitschirmfliegen. Mit Hilfe von Sonnenenergie und dynamischen Winden werden für das lautlose Fliegen natürliche Ressourcen genutzt. „Die Sonne erwärmt den Boden, warme Luft steigt auf und löst sich als Schlauch oder Blase nach oben“, erklärt Baumann die Thermik, die Gleitschirmflieger für den Auftrieb nutzen. „Im Prinzip funktioniert der Gleitschirm ähnlich wie der Flügel eines Flugzeugs, indem sein aerodynamisches Pro l Auftrieb erzeugt.“ Eine Orientierung bieten dabei die Wolken. „Sie zeigen an, wo warme, feuchte Luft aufsteigt. Dann stehen die Chancen gut, dass dort eine optimale Thermik herrscht.“

Doch Baumann weist auch darauf hin, dass das Gleitschirmfliegen mehr ist, als nur das Hängen an bunten Schirmen. „Wenn ich mich zum Beispiel auf eine Wolke verlasse, kann es passieren, dass sich die Wolke auflöst, bis ich dort bin. Dann muss ich ganz genau berechnen können, wie lange ich noch in der Luft sein kann.“ Ohne Thermik sinkt der Schirm einen Meter pro Sekunde. „Wenn ich mich in 1.000 Metern Flughöhe befinde, muss ich wissen, dass ich mir in spätestens zehn Minuten einen Landeplatz suchen muss.“
Wälder sind kein thermisch ergiebiges Fluggebiet für Gleitschirmflieger. „Der Wald ist kühl, schattig und feucht. Je trockener der Boden, desto besser. Dieser erhitzt sich schnell und bietet damit eine ideale Thermikquelle“, sagt Baumann. Was leicht aussieht, erfordert höchste Konzentration. „In der Luft ist man ständig am Arbeiten, um die Übergänge von steigender und sinkender Luft auszugleichen.“ An guten Tagen fliegen Piloten vom „Merkur” über 100 Kilometer weit.

Freiheitsgefühl – ohne Motor, ohne Lärm

Mehr als 36.000 Gleitschirm- und Drachenpiloten fliegen in Deutschland von zugelassenen Hangstartplätzen in den Alpen und den Hängen der Mittelgebirge. Aber auch im Flachland kann man mit Hilfe einer Seilwinde in den Aufwind starten. Voraussetzung zum Fliegen eines Gleitschirms ist eine staatliche Pilotenlizenz, die man in einer der insgesamt 80 zugelassenen Flugschulen absolvieren kann. Dabei werden drei Flugscheine unterschieden. „Für die A-Lizenz muss man rund 60 Flüge unter Aufsicht absolvieren“, berichtet Hans-Wolfram Obst, Vorsitzender des Drachen- und Gleitschirmclubs „Teufelsflieger” in Loffenau. „Dazu kommt theoretisches Wissen über Meteorologie, Gerätekunde und Verhalten in besonderen Situationen.“ Dieser Grundkurs erlaubt den Piloten das Starten und Landen in einem bestimmten Gebiet. Strecken- oder Überlandflüge sind nur mit der B-Lizenz möglich, bei der unter anderem auch Wissen über Flugrecht erlernt wird. Beim Tandemschein, mit dem man Verantwortung für einen weiteren Fluggast trägt, braucht es darüber hinaus spezielle Eignungstests. Hat man die Grundfertigkeiten erlernt, kann es losgehen in die unendliche Freiheit in rund 2.000 Metern Höhe. „Es ist einfach faszinierend, wenn man zuerst das kleine gefaltete Stoffpaket des Schirmes vor sich liegen sieht. Und sobald der Wind rein bläst, hat man plötzlich Flügel“, beschreibt Obst das Freiheitsgefühl. „Das dreidimensionale Bewegen in der Luft, ohne Motor, ohne Lärm, selbstgesteuert und so mitten in der Landschaft, das ist einmalig.“

Schirm, Gurtzeug, Rettungsschirm, Helm und Packsack wiegen zusammen rund 15 Kilogramm. Moderne Gleitschirme haben eine Spannweite von 20 bis 30 Quadratmetern. Besonders beliebt sind bei den Gleitschirmpiloten die „Hammertage“, wie sie im Flugchargon heißen. „Hammerweit fliegen“, erklärt Baumann die Wortschöpfung. „Man muss aber auch hammermäßig aufpassen“, betont der Pilot. Durch relativ kühle Nächte und sehr starke Sonne am Tag ergeben sich große Temperaturdifferrenzen. Und je höher der Temperaturunterschied, desto schneller steigt die Luft nach oben. Man ist schneller in der Luft. „Aber“, so Baumann, „wo Luft ansteigt, fällt sie auch schnell wieder. Man muss sehr konzentriert sein und den Schirm mit der Steuerung gut unter Kontrolle haben. Gerade bei der Landung verschätzen sich da manche Flieger gerne mal und kommen unsanft auf.“ Für Notfälle verfügen Gleitschirme über einen Rettungsschirm.

Ob Genussflieger, Wettbewerbsflieger, Streckenpiloten oder Akro-Flieger, die Kunststücke in der Luft beherrschen: Gleitschirmfliegen hat viele Facetten. „Wandern und Fliegen ist eine besondere Variante des Gleitschirmfliegens, bei der man mit einer Leichtausrüstung ausgestattet auf einer Wanderroute von ausgewiesenen Startplätzen fliegt“, berichtet Hans-Wolfram Obst von den Teufelsfliegern, der regelmäßig im „Walk & Fly”-Modus unterwegs ist. Ralf Baumann hat dagegen das Motorschirmfliegen für sich entdeckt. Hier erhebt man sich mit Gleitschirm und einem Zwei-Takt-Motor durch die Luft. „Die einfachste Form des Ultraleichtfliegens“, schwärmt er. „Damit kann man hinfliegen, wo man will.“
Der Erwerb einer Gleitschirm-Lizenz ist ab 16 Jahren möglich. Jugendliche sind als Gäste für den Tandemflug zugelassen. „Kleinere Kinder sind für den Tandemflug eher ungeeignet“, sagt Ralf Baumann, nennt aber eine weitere überraschende Passagiergattung: Hunde. „Es gibt Leute, die ihre Hunde mitfliegen lassen. Das kann man machen. Muss man aber nicht.“

Ariane Lindemann