E-Bikes: „Zukunft des Nahverkehrs“

Was die Fahrradstadt Karlsruhe ausmacht – und was noch verbessert werden kann / Interview mit Professor Jochen Eckart von der Hochschule Karlsruhe

Professor Jochen Eckart (rechts) ist selbst begeisterter Radfahrer.

Rechtes Bein vor, linkes Bein vor – wie beim Gehen, nur dass mit den Beinbewegungen die erste Radtour der Welt unternommen wird. Am 12. Juni 1817 setzte sich der in Karlsruhe geborene Freiherr Karl von Drais auf ein klobiges Laufrad aus Holz und radelte von Mannheim nach Schwetzingen. Zwar hat sein schepperndes Fuhrwerk noch keine Pedale, dennoch hat Drais damit eine bahnbrechende Erfindung auf den Weg gebracht: das Fahrrad. Während er aber noch von seinen Zeitgenossen belächelt wurde, boomt das Radfahren 200 Jahre später gerade in und um seine Geburtsstadt Karlsruhe. Nicht von ungefähr wurde die Fächerstadt 2021 vom Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Club (ADFC) erneut als fahrradfreundlichste Stadt Deutschlands ausgezeichnet. Zwischen 2005 und 2020 hat sich der Anteil der Radfahrer im Karlsruher Straßenverkehr von 16 auf 33 Prozent etwas mehr als verdoppelt. Bis 2025 soll er sogar auf 40 Prozent steigen.

Dahinter steckt ein im Oktober 2005 vom Gemeinderat einstimmig beschlossenes „Programm zur Förderung des Radverkehrs“. Seither hat sich einiges für Radfahrer getan. Mehr als ein Dutzend Fahrradstraßen sind entstanden. Hier haben Fahrräder Vorfahrt und Autos dürfen maximal 30 Stundenkilometer fahren. Außerdem sind viele breite Fahrradstreifen eingerichtet worden. Auch zum Abstellen ihrer Bikes  finden die Radbegeisterten mittlerweile eine Vielzahl an Möglichkeiten vor, darunter zwei Fahrradstationen am Hauptbahnhof mit mehr als 600 Stellplätzen.

Da aus der Region sehr viele Menschen nach Karlsruhe pendeln und dies heute durch Elektrofahrräder über längere Strecken immer einfacher per Tritt in die Pedale möglich ist, sollen auch die regionalen Verbindungen verbessert werden. Laut einer Machbarkeitsstudie im Auftrag des Regionalverbands Mittlerer Oberrhein bieten in der Region sieben Routen Potenzial für Radfahrhighways mit mindestens 2.000 Fahrradfahrern am Tag, wenig Steigung und einer Breite ab drei Metern. Sie sollen Städte miteinander verbinden und getreu ihrem Namen ein Radeln mit hoher Geschwindigkeit und ohne Unterbrechung ermöglichen. Start- und Zielpunkte der ins Auge gefassten Strecken sind Bühl, Bruchsal, Eggenstein-Leopoldshafen, Ettlingen, Pfinztal und Wörth am Rhein. Auf insgesamt rund 120 Kilometer kämen die Schnellradrouten. Konkrete Planungen gibt es bereits für eine Strecke zwischen Karlsruhe nach Ettlingen und eine Verbindung von Karlsruhe und Rastatt.

Der Boom wird anhalten

In der Corona-Zeit hat die Radbegeisterung nochmal einen Schub erhalten – vor allem durch die immer stärker nachgefragten Elektrofahrräder. Die Zahl der Privathaushalte mit E-Bikes hat sich in ganz Deutschland seit 2015 auf inzwischen mehr als 4,3 Millionen verdreifacht. „Dieser Boom wird anhalten“, ist Werner Metzger, Obermeister der Zweiradinnung Baden-Württemberg, überzeugt – auch wenn es aktuell in den Werkstätten Probleme wegen fehlender Ersatzteile gebe und die Händler dem Ansturm kaum hinterherkämen. „Fahrtechnisch sind E-Bikes einfach eine ganz andere Liga, sie sind die Zukunft des Nahverkehrs.“
Die Elektromotoren haben auch das Berufsfeld verändert. Zweiradmechaniker sind zu Zweiradmechatronikern-Fahrradtechnik geworden. In der Handwerksrolle bei der Handwerkskammer Karlsruhe sind 85 Meisterbetreibe im Bereich der Zweiradmechaniker eingetragen, wovon vermutlich bis zu zwei Drittel dem Fahrradsektor zuzurechnen sind.

„Bei einem elektrischen Fahrrad kann man nicht einfach austauschen, was man will, oder die Elektronik auslesen oder Antriebs-Updates einspielen“, erläutert Metzger. Auch aufgrund derart gestiegener Anforderungen dürfte das Fahrradhandwerk vor einer goldenen Zeit stehen. Eine ganz schöne Entwicklung, seit ein Karlsruher Freiherr die erste Radtour noch ohne Pedale unternommen hat.

Über die Fahrradmobilität im Allgemeinen und in Karlsruhe im Besonderen sprach REPORT auch mit Jochen Eckart, Professor für Verkehrsökologie an der Hochschule Karlsruhe. Heraus kam dabei ein großes Lob für das Handwerk.

Wie beurteilen Sie die Bedingungen der Fahrradmobilität in und um Karlsruhe?
Jochen Eckart: Karlsruhe wurde zum zweiten Mal hintereinander im ADFC-Fahrradklima-Test zur fahrradfreundlichsten Stadt Deutschlands gewählt – von den Radfahrern. Das ist ein positives Qualitätsurteil. In den letzten 15 Jahren sind gute Bedingungen für den Radverkehr entstanden, weil sich die Politik und die Bürgerinnen und Bürger einig waren, dass sie den Radverkehr fördern wollen und dies konsequent angegangen sind. Aber: Karlsruhe wurde Erster mit einer Dreier-Note. Es gibt demnach noch Verbesserungspotenzial. In der Region ist es ähnlich.

Kann die Fächerstadt also noch von Radmetropolen wie Kopenhagen oder Amsterdam lernen?
Eckart: Man kann natürlich immer von anderen lernen, aber ich warne davor, internationale Beispiele einfach kopieren zu wollen. Verkehrsverhalten hat immer auch eine kulturelle Dimension. Die Maßnahmen müssen immer zu einer Stadt passen. Nachdem Karlsruhe den Radverkehr von 15 auf über 30 Prozent der Wege gesteigert hat, ist es nicht einfach, noch mehr Leute vom Fahrrad zu überzeugen. Dafür können diese Städte als Beispiele dienen.

Beinhaltet dieses Überzeugen auch Verbote?
Eckart: Das A und O ist die Schaffung einer Infrastruktur für Radfahrer. Sie allein reicht aber nicht. Hinzu kommen Fahrradabstellanlagen und Bike-Sharing, aber auch Tempo 30 für Kraftfahrzeuge. Denn je langsamer der Autoverkehr, desto weniger störend ist es, wenn Radfahrer zusammen eine Fahrbahn benutzen. Bewährt hat sich ein Zuckerbrot-und-Peitsche-Schema. Das heißt, wenn Sie wollen, dass Leute ein Verkehrsmittel, wie das Auto, weniger nutzen, dann sollte es weniger attraktiv und gleichzeitig erwünschte Verkehrsmittel, wie zum Beispiel das Fahrrad, attraktiver gemacht werden.

Mitunter gibt es aber auch regelrechte Kleinkriege zwischen Radfahrern, Autofahrern und Fußgängern – wie kommen alle besser miteinander aus?
Eckart: Wenn alle Verkehrsteilnehmer sich den Platz teilen müssen, dann sind reduzierte Geschwindigkeiten ein probates Mittel eines verträglichen Nebeneinanders. Das gilt für Auto- und Radfahrer, aber auch für Radfahrer und Fußgänger. Die andere Möglichkeit ist, den Verkehrsteilnehmern jeweils eigenständige Flächen zu geben, dem Fußgänger den eigenen Fußweg und dem Radfahrer den eigenen Radweg. Aber dafür muss man meistens Flächen im Straßenraum umverteilen. Zudem muss man Einmündungen und Kreuzungen konsequent sicher gestalten. Dort entstehen die meisten Konflikte. Natürlich muss man auch an das Verhalten appellieren. Aber ich bin da frohen Mutes. In Karlsruhe fahren schon viele Menschen Fahrrad und ich habe das Gefühl, dass das gegenseitige Verständnis zugenommen hat.

Wir erleben einen Fahrradboom – wird der nach Corona anhalten?
Eckart: Es gab schon vor Corona einen Boom. Der Radverkehr ist in vielen Städten gestiegen. Corona hat dies nochmal verstärkt. Die Frage, was passiert nach Corona. Ich bin mir nicht sicher, ob es überhaupt ein so klares nach Corona geben wird oder stellt sich nicht vielmehr ein neues Normal ein. Es kann sein, dass Verhaltensweisen, die man während Corona hat, länger beibehalten werden. Deshalb glaube ich, dass der Radverkehr weiter an Bedeutung gewinnen wird. Bislang hat sich sehr viel in den Städten abgespielt, im ländlichen Raum ist für den Radverkehr noch nicht so viel gelaufen. Auch einige Städte hinken hinterher. Viele argumentieren mit der Topographie, aber das ist oft gar nicht der Fall. Zum Beispiel Rastatt ist genauso eben wie Karlsruhe und kann sicher noch fahrradfreundlicher werden. Der Radverkehr lässt sich wunderbar auf kommunaler Ebene regeln. Man muss nicht auf den Bundesverkehrsminister warten. Fahrradförderung kann jede Kommune selber machen.

Wie sehen Sie demgegenüber die Zukunft des Automobils?
Eckart: Es wird gegenwärtig diskutiert, ob das klassische Automobil an seinem Peak angekommen ist. Wir diskutieren, wie das Automobil sich weiterentwickeln wird, mit anderen Antriebskonzepten, autonomen Fahren oder Carsharing. Das Auto scheint sich neu zu erfinden ... aber die Vorhersage von dem Peak des Automobils wurde von Kollegen auch früher schon geäußert und ist nicht eingetreten. Deshalb sollte man noch ein paar Jahre warten, ob es sich tatsächlich bestätigt.

Was bedeutet der Rad-Boom für das Handwerk?

Eckart: Das weiß das Handwerk mit dem aktuellen Verkaufsboom sicher besser. Was ich dem Handwerk hoch anrechne, ist, dass es zur Fahrradförderung einen großen Anteil leistet. Wenn ich überlege, welche Fahrräder ich in meiner Jugend gefahren bin, wie häufig ich einen Platten hatte, wie schlecht die Bremsen waren und wie schwach die Lichtanlagen ... die Fahrräder heute sind um Welten besser. Da hat sich wirklich viel getan und dabei gehört auch dem Handwerk und den Fahrradhändlern ein großes Lob.

Jochen Eckart
ist Professor für Verkehrsökologie an der Hochschule Karlsruhe. Schwerpunkt seiner Forschung und Lehre ist die Integration von Verkehrsplanung mit Lärmminderungsplanung, Luftreinhalteplanung und Klimaschutz. Die Hochschule hat in den letzten Jahren einen Schwerpunkt Verkehr und Mobilität mit dem Bachelor- und Masterstudiengang „Verkehrssystemmanagement“ aufgebaut, in den auch der Radverkehr integriert ist. Darüber hinaus betreibt sie angewandte Forschung und Weiterbildungen, um den Radverkehr in der Praxis besser zu machen. Zudem hat die Verkehrswissenschaftlerin Angela Francke eine neue Stiftungsprofessur für Radverkehr an der Hochschule Karlsruhe übernommen. In Baden-Württemberg ist es die einzige von bundesweit sieben durch das Bundesverkehrsministerium geförderten Professuren für den Radverkehr.