Der Gedanke der handwerklichen Ehre

Gespräch mit dem internationalen Stararchitekten Ole Scheeren über neue Konzepte in der Architektur, Nachhaltigkeit, neue und alte Materialien und seinen Bezug zu Karlsruhe

Sie sind weltweit tätig, was verbinden Sie mit Karlsruhe, welche Erinnerungen haben Sie?
Ole Scheeren: Ich bin in Karlsruhe geboren, aufgewachsen, zur Schule gegangen und habe sogar den Anfang meines Studiums in Karlsruhe an der Uni bestritten. Das war damals noch die Technische Hochschule, heute KIT. In dem Sinn verbinden mich natürlich sehr viele Erinnerungen mit Karlsruhe, und auch der Beginn meiner Arbeit als Architekt. Ich habe in Karlsruhe parallel zum Studium mit 20 Jahren den ersten eigenen Auftrag realisiert und mit 22 fertiggestellt. Es gibt also natürlich eine lange persönliche und selbst eine professionelle Geschichte, die mich mit der Stadt verbindet. Ich war dann etwas länger nicht in Karlsruhe, habe aber mich sehr gefreut, als der Oberbürgermeister mich vor einigen Jahren zur Eintragung ins Goldene Buch der Stadt eingeladen hatte. Es war schön, auf diesem Weg wieder mit Karlsruhe Kontakt aufzunehmen. Ich habe auch Vorlesungen an der Hochschule und am ZKM gehalten.

Wie werden wir in Zukunft wohnen, im Blick auf das Zusammenspiel von Arbeiten, Wohnen, Zusammensein?
Scheeren: Ich glaube, es findet eine fundamentale Verschiebung in der Welt statt, im Bewusstsein und auch in den Erwartungen der Menschen. Die ehemals festen Grenzen, die Arbeit vom Rest des Lebens getrennt zu haben, sind schon sehr lange im Umbruch oder im Zusammenfließen. Und ich glaube, es wird eine viel stärkere Durchdringung und Vermischung dieser ehemals separaten Bereiche geben. Man wird nicht mehr nur an einen Ort der Arbeit oder einen Ort des Wohnens oder einen Ort für das Zusammensein denken. Ich glaube tatsächlich, dass auch eine riesige Chance darin liegt, diese Bereiche des Lebens nicht immer zu trennen und voneinander abzugrenzen. Vielleicht haben wir dadurch auch eine Möglichkeit, das Leben gesamtheitlicher zu realisieren und in dem Sinne vielleicht auch architektonisch zu konstruieren. Es gilt zu verstehen, was alles ein Teil unseres Lebens ist und dass wir Lebensräume schaffen müssen, die diesem integrativen, interaktiven und kommunikativen Gedanken gerecht werden.

Ihr Projekt „The Interlace“ in Singapur gilt als international zukunftsweisend bei der Schaffung von Wohnraum und der Gestaltung neuer Lebensräume. Was ist das Besondere an dem Projekt?
Scheeren: Dieses Projekt hat einen Lebensraum geschaffen, der den Menschen dort sehr viele Möglichkeiten und sehr viele Freiheiten eröffnet. Es gibt die Privatheit der Wohnungen. Es gibt das Semi-Private der Außen-Zonen, der Balkone, der Terrassen, der halböffentlichen Terrassen. Und dann gibt es sehr viele intensive Gemeinschafts-Bereiche, die auch wiederum eine große Bandbreite haben – ein Spektrum von wirklich aktiv gemeinschaftlichen Erlebnissen bis hin zu eher individuellen Erlebnissen, eingebettet in die Außen- und Naturräume. Und in diesem Sinne ist es wirklich der Gedanke eines komplexen Lebenssystems, das den Menschen dort ein aktives und interaktives Zusammensein und Alleinsein erlaubt. Das Projekt wurde zu einem erschwinglichen Preis realisiert. Eine Familie mit zwei Kindern kann sich das leisten, dort zu leben und eben diese hohe Lebensqualität für sich in Anspruch zu nehmen. Das haben wir erreichbar und greifbar gemacht.

Ein ganz wichtiger Bestandteil meines Projekts ist die Umkehrung der Vertikalen in die Horizontale. Dieses Projekt hätte eigentlich aus zwölf vertikalen Wohntürmen sein sollen, gemäß der Bauherren-Beschreibung. Ich habe diese Vertikalität der Türme in horizontale Blöcke umgelegt und diese dann aufgestapelt und über das Stapeln nicht nur eine Vernetzung großer Außenräume und Gärten geschaffen, sondern auch die Menge an Grün und Naturfläche vermehrfacht. Normalerweise nimmt die Architektur oder ein Gebäude etwas von der Natur weg. In diesem Fall verstärkt sie die Natur und schafft mehr davon: The Interlace hat 112 Prozent Grün verglichen mit dem Baugrundstück.

Und wenn wir schon bei der Natur sind, welche Rolle werden beim Bauen zukünftig die Aspekte Ökologie, Nachhaltigkeit und Klimaschutz spielen?
Scheeren: Nachhaltigkeit, Ökologie, Klimaschutz – das sind alles ganz wichtige und zentrale Themen, denen sich keiner mehr entziehen kann. Und ich glaube, die Wichtigkeit dieser Fragen ist wirklich ganz nach vorne gerückt. Aber ich halte es für entscheidend, dass wir diese Begriffe nicht isoliert und beispielsweise nur als eine Frage von Energiebilanz verstehen, sondern auch als eine soziale Frage. Nachhaltigkeit der Architektur bedeutet für mich auch, dass ein Projekt eben nicht nur der Umwelt verträglich sein muss, sondern auch der Welt des Menschen. Es muss ein grandioses Gebäude sein, ein tolles Gebäude. Es muss gut sein, darin zu leben oder zu arbeiten. Und es muss ein Gebäude sein, das den Menschen sowohl als Individuum als auch als Teil einer Sozialstruktur versteht und ihm einen positiven Lebensraum bietet.

Es ist auch eine wichtige Frage der Nachhaltigkeit, Modelle für den Umgang mit Bestand zu entwickeln, nicht nur zu überlegen, was abgerissen und neu gebaut werden muss. Aber auch nicht nur, sich vor ein bestehendes Gebäude zu stellen und zu sagen „Wir verschönern jetzt ein bisschen die Fassade und damit sei es getan“, sondern wirklich mit einem genauen Umgang von bestehender Substanz zu ergründen, wie man diese tatsächlich zukunftsfähig gestalten kann.

Mit „Shenzhen Wave“ für den chinesischen Konzern ZTE wagt Scheeren mehr Natur in der Architektur.

Welche Materialien haben die größte Zukunft?
Scheeren: Es gibt prinzipielle Fragen und es gibt aber auch sehr spezifische Fragen. Ich glaube, gerade auf Material-Ebene stellt sich die Frage von Nachhaltigkeit und von der Möglichkeit des Recycelns natürlich extrem. In dem Bereich passiert im Moment sehr viel, zum Beispiel werden alte Baustoffe wie Holz neu entdeckt. Es gibt Pilotprojekte, unter anderem zu Hochhäusern aus Holz. Da haben wir auch sehr interessante Entwürfe entwickelt und das ist ein Thema, das uns aktuell sehr beschäftigt. Es wird auch die Frage kommen, wie man mit Materialien lokalisiert umgehen und mit Materialien aus einer bestimmten Gegend arbeiten kann, damit diese nicht durch die ganze Welt transportieren werden müssen. Wie kann man in einem Kontext mit einer neuen lokalen Qualität Dinge erzeugen? Das sind alles interessante und wichtige Themen, die uns sicherlich noch sehr, sehr weit beschäftigen werden.

Ein anderes Thema ist sicherlich die moderne Technologie, 3D-Drucken und alles, was jetzt noch in Entwicklung ist. Wir sind noch nicht an dem Punkt angekommen, dass man tatsächlich ganze Gebäude damit drucken kann, aber zumindest erste Gebäudeteile oder modulare Teile herstellen geht schon. Und auch das, glaube ich, wird ein zukunftsweisender Zweig des Business werden. Und bis heute passiert das, was ich als Prototypen für eine neue Zukunft beschreiben würde: Es werden Modelle entwickelt, wie wir alte Strukturen neu denken können, Städte verdichten können und vieles mehr.

Das berücksichtigt, könnte es auch ein Bauwerk von Ole Scheeren in ihrer Heimatstadt Karlsruhe geben?
Scheeren: Das werden wir sehen. Das ist grundsätzlich natürlich durchaus vorstellbar. Die freundschaftliche Verbindung, die mit der Stadt besteht, führt durchaus in Wege, auf denen das möglich sein könnte.

Was würden Sie denn gerne noch bauen? Gibt es einen Traum?
Scheeren: Es gibt viele interessante Aufgaben. Ich werde die Frage weiter untersuchen, wie wir eigentlich leben möchten und welche Modelle wir für die Zukunft unseres menschlichen Lebens erdenken können. Da gibt es die Frage des Wohnens, des Arbeitens, der Interaktion und der Kommunität. Es gibt aber sicherlich auch die Aufgaben der Kultur und die Frage, wie müsste eigentlich ein Kulturgebäude der Zukunft aussehen? Was werden die Begegnungsplätze der Menschen in der Zukunft sein? Auf diesen Ebenen gibt es noch viele interessante Aufgaben.

Zum Thema Kultur: Sie hatten ja vorhin auch einen Vortrag beim ZKM erwähnt. Wie war denn Ihr Eindruck vom ZKM bei Ihrem Besuch?
Scheeren: Ich kenne das ZKM ja nun schon sehr lange und war auch damals auf der Eröffnung dort. In dem Sinn gibt es eine sehr lange Beziehung und ich glaube, das ZKM ist tatsächlich eine der hochinteressanten Institutionen in Deutschland. Auch global war es einer der Vorreiter dabei, die Rolle von Medien auch auf der Ebene der Kultur und Kunst zu definieren und zu untersuchen und einen Raum zu bieten für die Menschen, die ganz früh an diesen Konzepten gearbeitet haben. Diese Rolle des ZKM halte ich für weiter ausbaufähig und mit einer internationalen Agenda kombinierbar, die tatsächlich noch viele wichtige Beiträge hervorbringen könnte.

Gibt es aus Ihrer Sicht eine besonders hohe Qualität bei deutschen Handwerkern? Wie wichtig sind qualifizierte Handwerker?
Scheeren: Ich bin sehr handwerksbezogen aufgewachsen. Mein Vater war Architekt, aber auch ein äußerst fähiger Handwerker. Als Kind und Teenager habe ich mit ihm zwei Häuser im Prinzip selber gebaut und damit die Realität des Machens kennengelernt. Es ist klar, dass das Verständnis dessen, wie Dinge gemacht werden, wie sie in der Realität und physisch, wie das Handwerk ja sagt, mit Händen gemacht werden, zentral ist. Es ist elementar, um die Produktion dieser Realitäten zu verstehen. Ich verstehe die Architektur eben auch als eine Aufgabe, die zwischen dem großen konzeptionellen, kulturellen Denken und dem wirklich präzisen, auf Details fokussierten Machens und Erschaffens steht. Die Verbindung dieser beiden Teile halte ich für das wirklich Interessanteste. In dem Sinne spielen natürlich die Professionalität und Qualität des Handwerks eine ganz große Rolle. Tatsächlich noch diesen Gedanken einer handwerklichen Ehre zu sehen und die Präzision und Genauigkeit, mit denen das Handwerk arbeiten kann – das ist fantastisch. Und ich glaube, Deutschland und Baden-Württemberg haben eine wirklich große Rolle gespielt – und können sie auch weiterhin spielen –, dass auf der Basis von Handwerk und Technik und der Weiterentwicklung dieser, eine Zukunftsperspektive und Zukunftsentwicklung aufgezeigt wird.

Das Gespräch führte Horst Koppelstätter

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