Abrissbirne war gestern

„Urban Mining“ und Kreislaufwirtschaft: KIT-Professor Dirk Hebel beschreibt das Bauen der Zukunft

Staub breitet sich aus, es knarzt und kracht. Mit seiner Schaufel frisst sich ein Bagger durch das Gemäuer eines Abrisshauses. Es wird dem Erdboden gleichgemacht. Laut dem Onlineportal „statista“ geschieht dies in ganz Deutschland jährlich mit um die 1.500 Gebäuden, in denen sich drei oder mehr Wohnungen befanden. Die unter anderem daraus resultierenden mehr als 50 Millionen Tonnen Bauschutt pro Jahr landen auf immer voller werdenden Deponien oder werden einem Recycling etwa zur Gewinnung von Gesteinskörnungen für Beton, Mörtel und Asphalt zugeführt. Ein kleinerer Teil dient zudem als Verfüllmaterial unter neuen Straßen und in stillgelegten Grubenstollen.

Doch stellt dieser heutige Umgang mit Baumaterial schon der Weisheit letzter Schluss dar? Für Dirk Hebel ganz sicher nicht! „Der Weg des Materials ist damit zu Ende“, sagt der Professor für Nachhaltiges Bauen an der Architekturfakultät des KIT (Karlsruher Institut für Technologie). Aber das müsste nicht sein. In „Baustoffen, die schon einmal etwas anderes waren“, sieht Hebel dagegen ein riesiges Reservoir an derzeit noch kaum genutzten Möglichkeiten. „Nehmen Sie den Bau eines Kellers“, erklärt er. „Normalerweise wird von außen eine Dämmung aufgeklebt, als nächstes erfolgt ein Teeranstrich, dann kommen Plastikfolien drauf und es wird alles zu einem großen undefinierten Verbund. Wenn dieser Keller irgendwann rückgebaut wird, können Sie mit diesen Materialien nichts mehr anfangen, sie sind Sondermüll und müssen deponiert oder verbrannt werden.“ Schon heute seien aber die Abrisskosten insbesondere durch Deponiegebühren außerordentlich hoch – daher „ist es doch eine ganz andere Rechnung, wenn man die Materialien hinterher einfach sortenrein auseinandernehmen und wiederverwerten kann. So entstehen Wertanlagen für künftige Generationen“.

Hebel ist ein Verfechter von „Urban Mining“, was zu Deutsch so viel wie „Bergbau in städtischen Gebieten“ bedeutet. Dabei geht es zum einen darum, bereits vorhandene Materialien aus der gebauten Umwelt weiterzuverwenden. „Die deutsche Volkswirtschaft setzt jährlich rund 1,3 Milliarden Tonnen an Materialien im Inland ein“, heißt es dazu beim Bundesumweltministerium. „Davon verbleiben besonders Metalle und Baumineralien oftmals lange Zeit in Infrastrukturen, Gebäuden und Gütern des täglichen Gebrauchs.“ In Hinblick auf einen zunehmenden internationalen Wettbewerb um knappe Rohstoffe könne deren Nutzung dazu beitragen, die natürlichen Ressourcen der Erde zu schonen. Und Deutschland könnte unabhängiger von Importen werden.

YouTube

Den Rückbau gleich einplanen

Forscher wie Dirk Hebel streben darüber hinaus aber in sich geschlossene Material-Kreisläufe an – das ist das eigentliche Ziel. Irgendwann sollen möglichst viele Materialien sortenrein und ohne großen Aufwand immer wieder dem Bauen zugeführt werden. Über Generationen hinweg! Schon die Planungen sollen darauf eingerichtet sein. „Kreislaufwirtschaft bedeutet, den Rückbau gleich mit einzukalkulieren“, betont der Professor. „Auf dem Weg dahin ist Urban Mining ein Zwischenzustand, der allerdings noch Jahrzehnte anhalten wird.“ Der Samen für diese Entwicklung sei aber bereits gelegt.
Hebel begann vor mehr als einem Jahrzehnt mit der Erforschung von „Urban Mining“. Das KIT gilt heute als eine der führenden Einrichtungen auf dem Gebiet. Beim letztjährigen „Urban Mining Student Award“ gingen drei der vier Preise an die Karlsruher Universität. Mit besonderen Projekten versuchen die KIT-Forscher zudem immer wieder, „Urban Mining“ der Öffentlichkeit nahe zu bringen.

So haben sie in der Nähe von Zürich und zur Bundesgartenschau 2019 in Heilbronn Gebäude geplant, bei denen ausschließlich kompostierbare, wiederverwertbare und weiternutzbare Materialien für Konstruktion und Ausbau verwendet wurden. „Es lässt sich damit zeigen, dass wir heute schon in der Lage sind, im Bauwesen in geschlossenen Kreisläufen zu operieren“, betont Hebel. Nach seinen Angaben lagen die Baukosten dabei nur um bis zu zwölf Prozent über einer herkömmlichen Bauweise. „Und zwar ohne, dass wir heute schon von Skaleneffekten profitieren können“, erläutert er. Skaleneffekte führen beispielsweise zu Verbilligungen, wenn mehr Menschen die entsprechenden Techniken und Produkte nachfragen. „Auch wenn die Politik etwa mit einer CO2-Steuer andere Anreize setzt, wären die Mehrkosten sicher schon aufgefangen“, rechnet Hebel vor.

Nachholbedarf in Deutschland

Doch damit die künftige Kreislaufwirtschaft im Bauwesen tatsächlich auf den Weg gebracht werden kann, bedarf es für den KIT-Experten vor allem einer veränderten Mentalität. Hebel kann wie aus der Pistole geschossen von etlichen Unternehmen berichten, die bereits „Urban Mining“ betreiben. „Es gibt heute schon eine aufstrebende Industrie“, sagt er und nennt beispielsweise das Unternehmen Magna Glaskeramik aus Sachsen-Anhalt, das zur Fertigung von Glaskeramik-Platten für Innenausbau, Möbeldesign und Fassaden nur auf Industrie- und Flaschenglasabfälle zurückgreift. Oder den niederländischen Produzenten Desso, der einen vermietbaren und zu hundert Prozent wiederverwertbaren Teppich entwickelt hat. Oder die belgische Demontage-Firma Rotor DC, die mit großem Erfolg Online-Auktionen etwa von Rigipsplatten, Türgriffen oder Fenstern aus Abbruchhäusern durchführt. Und, und, und. Die Mehrzahl von Hebels Vorbild-Unternehmen stammt allerdings nicht aus Deutschland. „In der Innovationsfreude zum Thema Kreislaufwirtschaft im Baubereich haben wir hierzulande gegenwärtig durchaus Nachholbedarf“, sagt Hebel. In solchen Geschäftsmodellen, um mit neuen Methoden und Prinzipien die Grundlagen für eine Kreislaufwirtschaft zu schaffen, sollten aber gerade für das Handwerk viele Chancen stecken, findet er.

YouTube

Kein Verzicht

Weshalb ein Umdenken zudem dringend geboten erscheint, wird beim Blick auf die seit den 1960er Jahren anhaltende Verwendung von Verbundstoffen deutlich. Sie sind zu einem großen Teil ungeeignet für ein Recycling oder gar eine sortenreine Wiederverwertung. „Beispielsweise startete die Energiewende im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts mit einer Initiative zur Gebäudedämmung durch Wärmedämm-Verbund-Systeme, die heute zum Teil schon wieder als Sondermüll gelten“, erklärt Hebel. „Da gehen wir sehenden Auges in eine ökologische und ökonomische Sackgasse hinein.“ Die angestrebte Kreislaufwirtschaft bedeutet für Hebel keineswegs Verzicht. „Wir sollen auch in Zukunft alles bauen, was wir uns vorstellen und erträumen – nur sollten wir etwas mehr über sortenreine Materialien und deren Verbindungen und Rückbaubarkeit nachdenken, um neue und innovative Lösungen zu entwickeln. Und genau hier liegen unbedingt neue Chancen und Geschäftsfelder für das Handwerk.“

Christoph Ertz