„Stellen Sie sich vor, Sie sind im Jahr 2030“

Interview mit Zukunftsforscher, Andersdenker und Quermacher - Kai Gondlach

Kai Gondlach aus Leipzig nahm die Teilnehmer beim Neujahrsempfang der Handwerkskammer Karlsruhe mit auf eine faszinierende Reise in die Zukunft.

Kai Gondlach, Jahrgang 1987, ist einer der ersten akademischen Zukunftsforscher Deutschlands. In seiner Forschung beschäftigt er sich mit den zukünftigen Lebenswelten, Geschäftsmodellen und Organisationsformen. Er stellt die entscheidenden, oft unbequemen Zukunftsfragen und sucht in Gesprächen mit den wichtigsten Innovationsentscheidern der Welt nach Antworten. Er spürt kontinuierlich die Trends der kommenden Jahre auf – ganz ohne Kristallkugel, sondern mit wissenschaftlicher Methodik.

 Schlafen während der Autofahrt wird ungefährlich

Was haben Sie heute Morgen schon gemacht, was vor zehn oder 20 Jahren undenkbar gewesen wäre?
Kai Gondlach: Ich habe heute Morgen mit meiner besten Freundin telefoniert. Sie lebt in Südafrika und wir haben uns mit WhatsApp und Bildüber tragung in hervorragender Qualität ungefähr eine Stunde lang ausgetauscht – kostenlos natürlich. Zwischendurch hat sie kurz ihr Haus verlassen und ist zum Bahnhof in der Nähe gelaufen, die Verbindung blieb stabil. Die dafür notwendigen Geräte und Verbindungen (vor allem Smartphones mit winzigen Kameras und Mikrofonen, stationäres und mobiles Hochgeschwindigkeits-Internet,  aber auch global funktionierende Apps wie WhatsApp oder WeChat) gab es vor zehn Jahren noch nicht, vor 20 schon gar nicht. WhatsApp wurde 2009 gegründet, die Mobilfunkverträge mit annehmbarer Geschwindigkeit kosteten zu der Zeit noch ein kleines monatliches Vermögen und die Qualität von Kameraübertragungen übers Internet war grausig.

Welche Eigenschaften braucht ein guter Zukunftsforscher und Querdenker?
Gondlach: Erstens natürlich Neugier und ein breites Wissen über grundlegende Zusammenhänge in Gesellschaft, Wirtschaft, Politik und Wissenschaft. Zweitens steckt die Antwort in Ihrer Frage: Das Querdenken ermöglicht es erst, Phänomene zu erkennen, die anderen nicht auffallen. Man muss praktisch an den natürlichen, gewohnten und vor allem historisch scheinbar vorgegebenen Parametern vorbeischauen können und aktuelle Ereignisse oder Erfindungen losgelöst von den scheinbar fixen Voraussetzungen einschätzen.

Wird intelligente digitale Medizin unser Leben erheblich verlängern?
Gondlach: Suggestivfrage! Aber natürlich stimmt es. Die Medizinforschung ist nicht mehr weit davon entfernt, individuelle Organe wie Herzen oder Nieren im Labor zu züchten, um sie sterbenskranken Patienten zu transplantieren. Nano-Roboter werden bald in der Lage sein, durch die Blutlaufbahn zu zirkulieren und Alarm zu schlagen, wenn beispielsweise Entzündungswerte bei der Leber auf eine Krebserkrankung hindeuten – das passiert für gewöhnlich einige Monate, bevor ein Patient tatsächlich zum Arzt gehen würde. Derselbe Robo-Doktor kann dann gezielt Arzneimittel zur Krankheitsursache transportieren. Arzneimittel an sich werden in wenigen Jahren auch nicht mehr für die breite Masse produziert, sondern individuell auf den einzelnen Körper und das Erbgut zugeschnitten sein. Letztlich sprechen wir auch nicht mehr von Patienten, sondern Gesundheitskunden, da sich bei einer gesunden Lebensweise und präventiven Diagnostik der Arztbesuch erübrigen wird. Schließlich wird es in ein paar Jahrzehnten vollkommen alltäglich sein, dass man mit seinen 130-jährigen Freunden zum Tennis oder Fußball verabredet ist. Ich unterhalte mich gern mit Aubrey de Grey, ein bekannter Gerontologe und Bioinformatiker, der dazu ganz plakativ gesagt hat: Der erste Mensch, der 1.000 Jahre alt werden wird, wurde vermutlich bereits geboren.

 Roboter helfen bei der Gesundheitsvorsorge.

Was werden die gravierendsten Veränderungen für uns in den nächsten Jahren beim Wohnen werden?
Gondlach: Wohnen an sich wird sich nicht drastisch verändern. Menschen sind und bleiben soziale Wesen, wir mögen es komfortabel für uns und unsere Liebsten. Natürlich gibt es zahlreiche Möglichkeiten, den Wohnraum zu digitalisieren – besonders für pflegebedürftige Menschen bietet das Smart Home oder Ambient Assisted Living großartige Entwicklungen, um selbstständig leben zu können. Dazu gehören Sensoren im Boden, um Stürze zu melden, oder im Wohnraum, um ungesunde Luftzusammensetzungen zu detektieren, genauso wie Saug- und Wischroboter oder ganz schlicht der vernetzte Badezimmerspiegel, der die Gesundheitswerte des Bewohners analysiert und gegebenenfalls Vorschläge macht, um den Gesundheitszustand schnell zu optimieren – oder Hilfe zu rufen. Wohnkonzepte wiederum bleiben wie eh und je im Wandel. Urbanisierung und Stadtflucht wirken gleichzeitig, ein wachsender Anteil von Menschen möchte zudem in möblierten Apartments wohnen und möglichst auf Tagesbasis das Mietverhältnis verändern oder beenden können. Die adaptive Zweizimmerwohnung der Zukunft kostet in Karlsruhe vielleicht 800 Euro im Monat warm und möbliert, ich kann mir aber bei Bedarf ein weiteres Gästezimmer für 39 Euro pro Tag dazu buchen. Am Wochenende schalte ich zum Paketpreis von 29 Euro die volle Medizindiagnostik für mein Badezimmer und die Küche frei, da meine Eltern zu Besuch sind und sie sich mit ihrem heimischen Gesundheitsmanager (ehemals: Hausarzt) verbinden möchten.

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Welche Umbrüche sehen Sie in der Arbeitswelt?
Gondlach: Verabschieden Sie sich gedanklich schon mal von allen Elementen, die heute noch in 99 Prozent der Unternehmen existieren: lineare Entscheidungshierarchien, starre Tätigkeitsbeschreibungen und Abteilungen, dauerhafte Prozessbeschreibungen, 25-jährige Betriebsjubiläen. Unabhängig von der Branche oder dem Ausbildungslevel verwandeln sich Organisationen in den kommenden Jahrzehnten in fluide, agile Plattformen für ihre Mitarbeiter, die wiederum ihren individuellen Sinn und soziale Bedürfnisse bei der Arbeit verwirklichen möchten. Das theoretische Konzept von „New Work“ stammt schon aus den 1980er Jahren, findet aber erst seit einigen Jahren schrittweise Anwendung in deutschen Unternehmen und Behörden – darunter auch kleine und mittelständische Betriebe oder Gerichte, die damit großartige und er folgreiche Erfahrungen machen. Die kommenden Jahre werden geprägt sein von weitreichenden Automatisierungsschritten in allen Branchen und Lebensbereichen. Gleichzeitig wird der Wert von menschlicher Arbeit, Kommunikation und Empathie erheblich steigen.

Welche Erfindung generell der vergangenen 20 Jahren hat Sie selbst als Zukunftsforscher komplett überrascht?
Gondlach: Die Entwicklung des ersten Quantencomputers vor einigen Jahren! Viele Experten aus dem Bereich gingen bis vor kurzem noch davon aus, dass vor 2030 kein universeller Quantencomputer hergestellt werden könne, doch in den letzten drei Jahren haben sich die Ereignisse überschlagen. Inzwischen rechnen wir damit, dass im Jahr 2022 der erste funktionierende Superrechner mit 50 Qubits vorgestellt wird. Diese Entwicklung wird einen ähnlichen Effekt auf die Menschheit haben wie die Erfindung der Dampfmaschine oder des Internets und bahnbrechende Sprünge in sämtlichen Bereichen der Forschung und Massentechnologie ermöglichen. Die Diagnose und Prävention von Krankheiten, Verhinderung von Verkehrsstaus, Optimierung von Energieverteilung sowie die Entwicklung gänzlich neuer Technologien werden in sehr kurzer Zeit den Beginn eines neuen goldenen Zeitalters unserer Spezies begründen.

 Mit selbstfahrenden Autos und dem ersten Quantenrechner hat die Zukunft längst begonnen.

Wo sehen Sie Themen, bei denen wir in den nächsten Jahren die größten Veränderungen erleben werden?
Gondlach: Für den durchschnittlichen Alltag ist das ganz klar Mobilität. Der Siegeszug selbstfahrender Fahrzeuge hat bereits begonnen, die Robo-Autos von Google und Co. fahren schon heute sicherer als Menschen. Sie werden immerhin nicht müde und die gesamte Flotte lernt kollektiv von den Erfahrungen einzelner. Gleichzeitig wird durch autonome Fahrzeuge eine gigantische volkswirtschaftliche Kapazität frei: mehrere Millionen Stunden verbringen Menschen in Deutschland jeden Tag damit, einen Pkw oder Nutzfahrzeuge zu steuern. Diese Zeit wird dann frei und kann anders verwendet werden – durch Entspannung, Bildung oder Unterhaltung. Die Menschen werden freilich keine autonomen Fahrzeuge besitzen, sondern das jeweils zum geplanten Zweck passende bestellen: das fahrende Hotelzimmer, das schlichte Robo-Taxi, das mobile Besprechungszimmer.

Was verbinden Sie mit der Region Karlsruhe und Baden?
Gondlach: Guten Wein, Hightech am KIT, Casino in Baden-Baden und die Adelsgeschichte. Außerdem lebt die Familie meiner Patentochter in der Nähe, weshalb es mich immer wieder in die schöne Schwarzwaldregion und zum Mummelsee zieht.

Horst Koppelstätter

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