„Retterin des deutschen Films“ aus Karlsruhe?

Maren Ade, Regisseurin und Produzentin von „Toni Erdmann“

 Mit „Toni Erdmann“ feierte Maren Ade internationale Erfolge. Die preisgekrönte Regisseurin stammt aus Karlsruhe.

Oberbürgermeister Frank Mentrup: „Allein die Nominierung von Maren Ade für den Oscar macht uns alle mächtig stolz auf diese Tochter Karlsruhes!“

Die junge Frau aus Karlsruhe ist in aller Munde. Gebannt blickte die Welt auf die Oscarverleihung, wo Maren Ade nominiert war. Mit dem begehrten Oscar klappte es nicht, doch die Aufmerksamkeit für Maren Ade ist seither riesig. Der 28. April war dann ein Glückstag für sie. Gleich sechs der begehrten Lolas räumte ihre gefeierte Tragikkomödie „Toni Erdmann“ bei der Verleihung des Deutschen Filmpreises 2017 ab – unter anderem für die beste Regie, das beste Drehbuch und die beste Hauptdarstellerin.

Trostpflaster für die fehlende Prämierung durch goldene Palme und Oscar?
Mitnichten. Für Cannes und Los Angeles gilt gleichermaßen: Nominiert sein ist viel, wenn nicht alles – insbesondere für eine deutsche Produktion. Mit 30 (!) europäischen Filmpreisen darf „Toni Erdmann“ sehr wohl als erfolgreichster deutscher Film des Jahrzehnts gelten, und noch immer sind die Kritiker voll des Lobes. Der Hype um ihren dritten Langfilm hat die 40-jährige Regisseurin und Produzentin aus Karlsruhe nichtsdestoweniger verblüfft. „Was ist denn das jetzt?“, habe sie sich mehr als einmal gefragt.

Als „Retterin des deutschen Kinos“ sieht sich Maren Ade jedenfalls nicht. Was sie will: glaubhaft und mit der subtilen Sprache des Humors Geschichten erzählen, die das Leben schreibt – so präzise und sensibel wie möglich.

Die in Berlin und München lebende Regisseurin ist Vertreterin der Jungen Berliner Schule, eines eher spröden Autorenkinos, das auf formales Understatement, maximale Exaktheit, Psychologie und Glaubhaftigkeit seiner Charaktere setzt. Als Mitinhaberin einer Produktionsfirma mit dem sprechenden Titel „Komplizen Film“ (seit 2001) gelang es ihr, zahlreichen Filmen der „jungen Berliner“ zur Kinoreife zu verhelfen. Ihren ersten Spielfilm von 2003 hat sie noch mit der Videokamera gedreht. Mit einem solchen Gerät, dem Geschenk ihrer Eltern, hat sie mit 14 Jahren ihre Leidenschaft fürs Filmen entdeckt.

Nach der Schule in Karlsruhe folgte ein Praktikum bei einer Produktionsfirma und das Studium an der Münchner Hochschule für Fernsehen und Film.

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Liebe zu den Figuren

In ihrem Debutfilm „Der Wald vor lauter Bäumen“ erzählt Maren Ade die anrührende Geschichte einer nach Karlsruhe versetzten schwäbischen Junglehrerin, die beim Versuch, frischen Wind in ihre Realschule und in ihr einsames Privatleben zu bringen, auf der ganzen Linie scheitert. Schon hier fällt Ades detailversessene, geradezu seziererische Nahsicht auf, ebenso die Liebe zu ihren Figuren, die vermeintlich so ganz anders sind als sie selbst, die ihr Leben als Mutter, Regisseurin und Produzentin scheinbar mühelos unter einen Hut bringt: Menschen, die nach ihrem Ort suchen – mitunter auch nach einem anderen Leben.

Reichlich Kritikerlob fuhr auch ihre zweite Produktion „Alle anderen“ ein, eine auf Sardinien gedrehte Beziehungskomödie um zwei ungleiche Freundespaare, die auf der Berlinale 2009 den Großen Preis der Jury gewann.

In der Tragikomödie „Toni Erdmann“ schließlich sei es ihr primär um das Thema Familie gegangen, erzählt sie im Interview. Auch um die Frage, wann es eigentlich an der Zeit sei, sich zu ändern. Winfried, ein alternder Musiklehrer und skurriler Nonkonformist mit 68er-Attitüden (Peter Simonischek) kämpft um die verlorene Nähe zu seiner Tochter (Sandra Hüller), die als erfolgreiche Firmenberaterin in Bukarest an der Liquidierung eines Großbetriebs beteiligt ist. Er reist ihr nach und schlüpft, als er sie nicht zu erreichen vermag, in die Rolle eines gewissen Toni Erdmann, geriert sich abwechselnd als Coach und Botschafter und legt ein beachtliches Talent an den Tag, das firmenkonforme Leben seiner Tochter mit Perücke und falschem
Gebiss ordentlich aus dem Takt zu bringen. In Wahrheit hält er ihr, letztlich wohl erfolgreich, den Spiegel vor.

Wechsel zwischen Tragik und Komik

Es ist die Komik des Fremdschämens, die Maren Ade hier perfekt in Szene setzt. Jedes (verletzende oder entlarvende) Wort sitzt wie ein feiner Nadelstich, und im subtilen Wechselspiel von Nähe und Distanz halten sich Tragik und Komik auf so irritierende Weise die Waage, dass einem das Lachen mehr als einmal im Hals stecken bleibt.

Neben den hervorragenden Leistungen der beiden Hauptdarsteller überzeugt der Film nicht zuletzt auch durch seine schonungslose Analyse einer mitunter grotesken Businesswelt. Monatelang hat Ade bei einer professionellen Firmenberaterin recherchiert, denn Genauigkeit
gehört zu den Haupttugenden der Regisseurin. 

Bis zu 40 Mal probt sie eine Sequenz, so lange bis auch die kleinste Nuance sitzt. Langsamkeit gehört für sie unbedingt zum Geschäft. Alle sieben Jahre ein eigener Film – das ist ihr genug. Und völlig angemessen, wenn ein „Toni Erdmann“ dabei herauskommt. Zweifelsohne ein großer Wurf. 

162 Minuten lang ist „Toni Erdmann“. Vergeblich habe sie ihn zu kürzen versucht. Der Zuschauer, der sich auch bei langen Einstellungen keine Minute langweilt, dankt es ihr, denn das Private und das Gesellschaftliche sind darin auf ideale Weise verschmolzen. Am Ende hat sich jeder der beiden Hauptpersonen ein wenig verändert – und vielleicht auch der Zuschauer.
Was kann man von einem deutschen Kinofilm mehr erwarten!

Maren Ade hat die Rechte an ihrem Drehbuch verkauft – an eine amerikanische Produktionsfirma. Mit Jack Nicholson in der Hauptrolle soll es bald ein Hollywood-Remake geben. Ob der zweite „Toni Erdmann“ ans Original heranreicht, bleibt abzuwarten. Es zu übertreffen, dürfte keine leichte Aufgabe sein.

Maren Ade scheint aber beinahe erleichtert, den Film endlich hinter sich zu lassen. Denn auch Erfolg ist auf dem Weg zu neuen Ufern mitunter eine Bürde. Auf Maren Ades nächsten Film dürfen wir jedenfalls gespannt sein.

Maren Ade

Die inzwischen weltweit bekannte Filmemacherin ist am 12. Dezember 1976 in Karlsruhe geboren. Sie lebte mit ihrer Familie im Stadtteil Hohenwettersbach, ging dort auf die Grundschule „Schule im Lustgarten“ und machte ihr Abitur am Karlsruher Helmholtz-Gymnasium. Danach studierte sie bis 2002 an der Hochschule für Film und Fernsehen München. Der erste große Film von Maren Ade, „Der Wald vor lauter Bäumen“ (2003), wurde in Karlsruhe gedreht. Heute ist Karlsruhe stolz auf Ade. Oberbürgermeister Frank Mentrup spricht von einem Paradebeispiel für die „kreative und innovative“ Region Karlsruhe.

Stefan Tolksdorf