Unterwegs mit Reetdachdeckern

Spezialisten aus Norddeutschland reparieren regelmässig die Reetdächer im Europa-Park

Es könnte die 16.000 Euro-Frage bei Günther Jauch sein: Was ist ein Klopfbrett? Die Antwort kennen eher Spezialisten: Es ist ein unverzichtbares Werkzeug für einen Reetdachdecker, mit diesem Holzbrett bringt er die Halme auf eine gerade Linie.

„Ohne das Klopfbrett könnte ich gar nichts machen hier“,

erläutert Jens Henning, der ein Leben lang als Reetdachdecker arbeitet und dieses zunehmend seltene Handwerk noch von der Pike auf gelernt hat. Henning lebt in der Nähe von Kiel und ist mit seinen Kollegen nach Rust in den Europa-Park gekommen. Gleich mehrere Gebäude haben hier noch die typischen Reetdächer, die es nicht nur im Norden, sondern auch im Schwarzwald gibt.

Doch die optisch wunderschönen Dächer prägen immer seltener das Bild. Gerade mal ein Prozent der Dächer an der Nordsee sind mit Reet gedeckt, schätzt Henning. Ungefähr alle zehn Jahre müssen Reetdächer überarbeitet und schadhafte Stellen erneuert werden. So nun auch im Europa-Park.

Wie kommt aber Reet ausgerechnet nach Rust?
Europa-Park-Gründer Roland Mack erinnert sich noch gut. Vor der Eröffnung des Parks gab es 1973 die internationale Gartenbauausstellung in Hamburg. Einer der Hingucker war ein großes rotes futuristisches Segeldach, das mehrere Attraktionen überspannte. Nach der Gartenschau stand es zum Verkauf. „Wir übernahmen das Dach und bauten unser Seerestaurant als Flachbau darunter. Eine tolle architektonische Wirkung. Doch das Segeldach wurde schon früh durch eine schwere Schneelast stark beschädigt. Nun war die frage, was tun, um die originellen Formen wieder herzustellen? Die sehr moderne Ausprägung war nicht von allen Materialen nachzuvollziehen. So kamen wir auf das Reet, das ja auch im Schwarzwald durchaus verbreitet war. Ein sehr natürliches und flexibles Material, mit dem die bis heute bestehende Dachform gestaltet werden sollte. Das neue reetgedeckte Seerestaurant findet viel Anklang und Zustimmung.“

Inzwischen sind im Europa-Park weitere Gebäude mit diesem sehr ungewöhnlichen Werkstoff gedeckt: der Bahnhof „Mississippi Dampfer“, die Attraktionen „Das tapfere Schneiderlein" und „Koffiekopjes“, der Verkaufsstand „Sööte Deern“ in der Deutschen Straße, die Mühle in Griechenland, das „Kolonial Haus“, mehrere Gebäude im Tipidorf und die kleinen Hütten auf dem See (Floßfahrt).

Hier sind die selten gewordenen Handwerker unerlässlich: die Reetdachdecker. Jens Henning weiß genau, wo er ausbessern und welche Bereiche komplett neu gedeckt werden müssen. Bei den Vorzügen des aturmaterials Reet kommt der Hanseate schnell ins Schwärmen:

„Reet hält im Winter warm und im Sommer bleibt es schön kühl, also eine natürliche Klimaanlage.“

seit 1983 ist er Tag für Tag auf dem Reetdach. Das ist sein Leben: Das Reet wird bundweise nebeneinander auf die Dachlatten gelegt – auf jede Reihe Dachlatten kommt eine Lage eet. Die Bunde werden aufgeschnitten und mit dem Klopfbrett in die richtige Lage geklopft.

Anschließend erfolgt das Annähen mit einem speziellen Draht: Ein durchaus komplizierter Vorgang, der viel Geschick verlangt, denn der Dachdecker sieht diesen Vorgang nicht, sondern muss ihn fühlen – das erfordert viel Erfahrung. Das Annähen wird für jedes Reetbund einzeln wiederholt – mehr als 5.000 mal bei 5.000 Bund Reet für ein Dach mittlerer Größe.

Zum Schluss werden Traufkante und Dachfläche ein letztes mal mit dem Klopfbrett egalisiert und in Form gebracht. Die Dachfläche darf keine „Berge“ und keine „Lunken“ haben, so kann das Wasser schnell und gleichmäßig ablaufen. Dann werden letzte Reetreste mit einem Besen vom Dach gefegt. Das Dach ist nun fertig. Es leuchtet noch gelb, mit dem frischen Reet. Das wird sich aber bald ändern, Sonne und Regen sorgen für die silbergraue Farbe, die es mit der Umgebung verschmelzen lässt

Für einen Quadratmeter Dachfläche werden rund zehn Bund (je 1,90 Meter lang) Reet, also Schilf, benötigt. Heute kommt das Reet meist aus Ungarn, weil in Deutschland nicht mehr genügend Schilf wächst, das ohne Weiteres geerntet werden könnte. Die Qualität ist dabei wichtig. Einjähriges Schilfrohr ist am besten. Das Reet muss richtig getrocknet sein, sollte aber dennoch relativ kurz nach dem Ernten verarbeitet sein. Der richtige Zeitpunkt erfordert viel Erfahrung.

Gut 40 bis 50 Jahre hält ein Reetdach bei guter Pflege. Da hat Jens Henning noch einen besonderen Tipp: Ein Reetdach muss frei stehen, es sollen Sonne und Wind hinkommen, und möglichst wenig Bäume Schatten werfen, dann hält das Dach am längsten. Das ist Dachdecken mit sehr langer Tradition: schon in der Bronzezeit gab es erste Reetdächer und im Schwarzwald ist die Form der Dachbedeckung auch schon seit Jahrhunderten verbreitet.

Horst Koppelstätter