Der Zauber des heiligen Berges

Ein Tag auf dem Mont Sainte-Odile

Von Stefan Tolksdorf

Weil sie ihre Namenspatronin verehrt, kommt sie jährlich einmal auf „Ihren Berg“, vorzugsweise am Todestag ihrer Mutter. Dass eine Frau ihres Namens vor 1.300 Jahren ihren Stock gegen den Felsen schlug, um einem blinden Bettler Linderung zu verschaffen, hält sie keineswegs für unglaubhaft: „Was wollen Sie? Das Wasser ist gut, die Wirkung der Quelle seit Jahrhunderten erprobt.“ Ihre PC-müden Augen „bade“ sie gern darin, benutze es auch zum Trinken und Backen: „Formidable!“ – und sie fährt fort, ihren Kanister zu füllen, den der 14-jährige Enkel gleich im Kofferraum des Van verstauen wird, wie all die anderen. Natürlich reiche das nur für ein paar Wochen, sagt Odile M., aber zusammen mit dem Gebet am Grab der Heiligen sei die Fahrt ins Elsass für sie längst zu einem lieb gewordenen Ritual geworden: „Und nachher wird gewandert!“ Seit fünf Jahren kommen sie und die ihren aus dem Schweizer Arlesheim regelmäßig zum „heiligen Berg“, manchmal auch zu Seminaren und Meditationen im Kloster. Sie habe ein geradezu intimes Verhältnis zur Patronin ihres Heimatortes. In den Jurafelsen bei Basel soll sich die historische Odile vor ihrem zornigen Vater verborgen haben – eine Legende, die auch die Gemarkung Sankt Ottilien bei Freiburg im Breisgau
für sich deklariert. Wie bei vielen Heiligen verknüpfen sich auch bei Odilia auf untrennbare Weise geschichtliche Wahrheit (vielmehr: Wahrscheinlichkeit) und Legende. Ihre erste Vita, verfasst im 10. Jahrhundert, ist geprägt vom Wunderbaren. Der historische Befund nimmt sich demgegenüber überraschend spärlich aus. Dass Odilia, die heilige Prinzessin aus dem Elsass, „nur“ eine archetypische Figuration aus christlichen und vorchristlichen Mythen oder gar die christliche Version einer keltischen Muttergöttin sei, wie esoterisch inspirierte Autoren behaupten, erscheint allerdings leicht abwegig.

Um 660 soll sie als Tochter des merowingisch-alemannischen Adligen Etticho und der Bruswinde zur Welt gekommen sein, entweder in Burgund, wo der Stammsitz der Familie lag, oder auf dem Odilienberg, wo Etticho als (relativ eigenständiger) Vertreter der Merowingerkönige regierte. Es war diese eine raue Zeit, als das Christentum im fränkisch beherrschten Allemannien noch ein überaus zartes Pflänzchen war. Der historische Etticho, dritter bekannter Herzog des Elsass und Begründer eines Geschlechts, das bis ins 13. Jahrhundert
bestand, muss ein arger Wüterich gewesen sein. Seine blind geborene Tochter hätte er, laut Legende, am liebsten auf der Stelle getötet; die Mutter brachte die Kleine im Kloster Palma (wohl Beaume-les-Dammes), wo sie bei der Taufe durch den Wanderbischof Erhard von Regensburg sehend wurde – gleichsam im Licht des Glaubens. Das alles klingt so märchenhaft wie Schneewittchen.

Ernster Blick aus Stein

Den jüngeren Bruder, der die Verbannte schließlich in die Heimat zurück brachte, soll Etticho aus Jähzorn umgebracht haben. Wurde das Rauhbein daraufhin endlich fromm oder verfolgte er, empört über ihre Weigerung zur Ehe, die Tochter noch nach Freiburg oder Arlesheim? Hier trennen sich die Legendenstränge. Sicher ist, dass Etticho seinen Wohnsitz schließlich der Tochter vermachte. Die machte aus dem Burgplatz Alztona (wie der Ort noch lange hieß) das Kloster Hohenburg, heute bekannt als Mont Sainte Odile. In 763 Metern Höhe blickt die monumentale Statue der ernsten Äbtissin vom „montagne sacrée“ über das Vogesenstädtchen Ottrott und die Rheinebene bis hinüber zum Schwarzwald. Schon dieser Sicht wegen lohnt die Auffahrt. Aus der Blütezeit des Klosters im hohen Mittelalter hat sich nur wenig erhalten: zwei mit Goldglanz überzogene Kapellen und die Grabstätte Odiliens und ihrer Eltern mit beachtlichem romanischen Kapitelschmuck. Während der Herrschaft der Hohenstaufen, als das Elsass noch Teil des Herzogtums Schwaben war, entstand in der Bergeinsamkeit ein Bücherschatz: die Handschrift „Hortus Deliciarum“ der Äbtissin Herrad von Landsberg (1187-1195), ein Kompendium des gesammelten theologischen und profanen Wissens ihrer Zeit. Das Original ging 1870 bei der Beschießung Straßburgs durch die Preußen verloren, neuere Fresken im Kreuzgang beschwören eine Zeit, die sich der Gedankenwelt der heutigen Besucher weitgehend entzieht.

Kirche und Konventsgebäude stammen größtenteils aus dem 19. Jahrhundert, als das Bistum Straßburg den seit der französischen Revolution brach liegenden Komplex kaufte, um dem „heiligen Berg“ wieder neues spirituelles Leben einzuhauchen. Nach Augustiner-Chorfrauen, Prämonstratensern und Franziskanerinnen versehen heute die Schwestern vom Heiligen Kreuz die Seelsorge. In der Kirche betreuen sie die „ewige Anbetung“. Überdies gibt es ein Hotel mit Restaurant und Seminarräumen. „So, das wäre geschafft!“ Fünf Kanister sind im Kofferraum verstaut, jetzt schnüren Odile und ihr Enkel die Wanderstiefel. Tourenziel ist, wie fast immer, die geheimnisvolle Heidenmauer, welche auf mehr als zehn Kilometern den dreifachen Gipfel des Berges umrundet – das wohl rätselhafteste Bauwerk im Osten Frankreichs. Bezeichnungen wie „Druidengrotte“ sprechen für sich. Hat wirklich ein keltischer Stamm die Umfriedung errichtet oder reicht sie etwa noch viel weiter zurück – bis ins Neolithikum? Der Stein spricht nicht. Einzig die in die Quader eingelassenen hölzernen Klammern, von denen unlängst einige aufgetaucht sind, lassen Datierungen zu. Aus der Zeit Ettichos und Odilias sollen sie stammen, wie eine dendrochronologische Untersuchung und die C14-Methode beweisen sollen. Aber ist die Mauer nicht doch viel älter? Vor allem: Zu welchem Zweck diente sie? Lag auf der Höhe etwa ein prähistorischer Kultort, wie auf dem nahen Donon? Oder ist sie nur Stein gewordene Dominanzgebärde eines fränkischen Amtsträgers, wie der Freiburger Archäologe Heiko Steuer meint? Rätsel über Rätsel.

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Odile und ihr Enkel nehmen die Sache sportlich. Viereinhalb Stunden benötigen sie zum Abwandern der stellenweise drei Meter hohen Bruchsteinmauer. Manchmal treffe sie auf Wünschelrutengänger und verschämte Männer mit Metalldetektoren, berichtet die Arlesheimerin. Sie weiß, dass dem Berg besondere Kräfte nachgesagt werden, dass Sonnwendfeiern und Vollmondrituale hier oben gefeiert werden, etwa auf dem so genannten „Hexentanzplatz“ mit dem geheimnisvollen Schmetterlingsstein. Für derartigen neuheidnischen Zauber habe sie wenig Sinn. Sicher, Geheimnisse gibt es hier oben viele, etwa wie es am 20. Januar 1992 zum Absturz eines Airbus A320 auf einer Wiese nahe Niedermünster kam, bei dem 87 Menschen ums Leben kamen. Die Mauer jedenfalls werde ihr Geheimnis nie preisgeben – und das sei auch gut so, denn was wäre die Welt ohne Rätsel und Geheimnisse?