Die Gedanken sind frei

Gedenken an den großartigen elsässischen Künstler Tomi Ungerer

Unsterblich – so titelt die Frankfurter Allgemeine Zeitung auf ihrer ersten Seite am Tag nach dem Tod des Künstlers Tomi Ungerer. Am Abend des 8. Februar ist er im Haus seiner Tochter Aria in Cork in Irland ins Bett gegangen, wollte noch sein geliebtes Kreuzworträtsel lösen, ein tägliches Ritual, ist dann aber eingeschlafen und nicht mehr aufgewacht. Der „Mann mit Herz, der Mann mit Schmerz“ lebt nicht mehr. Er wurde 87 Jahre alt. Im altehrwürdigen Straßburger Münster nehmen eine Woche später mehr als 1.000 Menschen in einer emotionalen
Feier Abschied von dem großen Elsässer und Künstler. Von einem riesigen Stofftransparent lächelt Tomi im Altarraum des mehr als 1.000 Jahre alten mächtigen Baus spitzbübisch herab auf die Trauergäste. Viele Künstler sind gekommen, Politiker aus mehreren Ländern, Wegbegleiter, Unternehmer, Journalisten, Tomis Witwe Yvonne und die Kinder. Der Straßburger Erzbischof Luc Ravel gestaltete mit weiteren Geistlichen verschiedener Konfessionen und Sängern den Abschied. Eine würdige Feier, die sich Tomi gewünscht hatte. Er war ein Elsässer durch und durch und sagte oft: „Meine Wurzeln sind im Elsass, meine Baumkrone ist in Irland.“

 Roland Mack und Tomi Ungerer

Auch der Europa-Park hatte enge Kontakte zu Tomi Ungerer. „Wir trauern um unseren Freund Tomi, er war ein großartiger Künstler“, sagt Europa-Park-Inhaber Roland Mack. Seit mehr als 20 Jahren hatte Tomi Ungerer eine freundschaftliche Verbindung zum Europa-Park und der Inhaberfamilie Mack. Die große Ausstellung im Europa-Park, „Die Welt der Tiere von Tomi Ungerer“ anlässlich seines 80. Geburtstages im Jahr 2011, sahen mehr als 100.000 Menschen. Tomi Ungerer war immer wieder zu Gast im Europa-Park und hat auch zahlreiche Gestaltungsideen eingebracht. Vor allem bei deutsch-französischen Aktionen mit jungen Menschen war er präsent, auch hatte der Zeichentrickfilm nach seinem Buch „Die drei Räuber“ im Europa-Park Premiere. Ungerer und Roland Mack verband das große Engagement für ein starkes Europa. Roland Mack: „Tomi war wie ich Sonderbotschafter des Europarates und wir haben uns in vielen gemeinsamen Aktionen für Kinder und Familien in Europa eingesetzt.“ 

Bei der Eröffnung des neu gestalteten Französischen Themenbereiches im Europa Park im Jahr 2018 war Tomi Ungerer per Videobotschaft zugeschaltet. Seine Kernbotschaft: „Die deutsch-französische Freundschaft ist das Rückgrat eines starken Europas.“ Roland Mack: „Was uns verbindet, ist die Liebe zum Oberrhein, zur deutsch-französischen Freundschaft, zu Europa, zur Kunst, zu den Menschen und zu Werten. Wir kämpfen mit dem Europarat auch seit Jahren gegen Rassismus.“

Tomi Ungerer wurde vielfach ausgezeichnet. Für seine Verdienste um die deutsch-französischen Beziehungen erhielt er 1992 das „Bundesverdienstkreuz“ und 2008 den „Prix de l’Académie de Berlin“. 2005 wurde Tomi Ungerer mit dem „e.o. plauen-Preis“ ausgezeichnet, 2014 ernannte ihn François Hollande zum „Commandeur de l’Ordre national du Mérite“, 2017 erhielt er den „Bayerischen Buchpreis“ und 2018 wurde er von Präsident Emmanuel Macron zum „Commandeur de la Legion d’Honneur“ ernannt. Tomi Ungerer hatte wie Roland Mack auch einen sehr engen Draht nach Karlsruhe. Beide sind mit der Ehrendoktorwürde des KIT (Karlsruher Institut für Technologie) ausgezeichnet worden.

Den Besuchern im Europa-Park begegnen vor allem in den Hotels viele Zeichnungen von Tomi Ungerer. Seit einigen Jahren ist eine eigene Straße im Europa-Park nach ihm benannt. Jetzt soll ein Restaurant im Französischen Themenbereich komplett Tomi Ungerer gewidmet werden. Wer war nur dieser Tomi Ungerer? „Expect the Unexpected“ lautet der Titel eines Buches anlässlich seines 80. Geburtstages.
Und genau so war der rebellische Elsässer mit den mitunter etwas derben Witzen und gleichermaßen liebevollen Erzählungen. Er gab sich unsicher und doch wusste er letztlich genau, was er wollte: aufrütteln, provozieren. Der Kunstkritiker Werner Spies schrieb treffend: „Voller Bewunderung, verwirrt stehen wir vor dem uferlosen Werk Tomi Ungerers. Er entzieht sich jeder Definition. Höhen und Tiefen, Lachen und Weinen stoßen unversöhnlich aufeinander. Ständig zerbricht der Künstler die Idyllen, die er hervorzuzaubern versteht. Immer wieder muss er seinen Märchenwald abholzen ...“

Wir trafen Tomi Ungerer einmal am Rande einer Ausstellungeröffnung im Kunsthaus Zürich. Noch bevor die erste Frage gestellt ist, sagt Tomi damals unvermittelt: „Entschuldigung, ich habe heute einen Hut auf, aber ich bin sehr lichtempfindlich mit den Augen. Das ist mein Lampenschirm, den ich mitgebracht habe. Lampenfieber habe ich auch.“ Tomi ist der Meister des Wortspiels gewesen und hatte eine diebische Freude daran, seine Gesprächspartner zu irritieren. Das geht mühelos auch mit dem Zeichenstift. „Ohne Hoffnungslosigkeit gäbe es keine Kunst“, schmunzelte der Elsässer und verrät gleich dazu, was ihn umtreibt: „Ich habe einfach zu viele Ideen. Ich kann nicht aufhören: Wenn ich morgens aufwache, stehen die Ideen schon Schlange.“ Und noch eine Lebensweisheit von Tomi: „Mit einer Antwort wird man eine Frage nicht los.“

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Hans Dampf in allen Kunstgassen
In Straßburg wurde Tomi Ungerer am 28. November 1931 geboren. Die Geschichte seiner elsässischen Heimat hat er immer wieder zeichnerisch und schriftstellerisch verarbeitet, mal bissig („Das Elsass ist wie eine Toilette, immer besetzt“), mal versöhnlich in zahlreichen Bildern, auf denen er mit humorvollen Motiven für die deutsch-französische Freundschaft plädiert. Als junger Mann wanderte Ungerer in die USA und nach Kanada aus, lebte später in Irland und wieder in Straßburg.
Dort eröffnete Ende 2007 das Ungerer Museum in der restaurierten Villa Greiner im Zentrum der Stadt. Erstmals wurde damit in Frankreich einem lebenden Künstler ein eigenes Museum gewidmet. Wie produktiv dieser Hans Dampf in allen Kunstgassen war, zeigt sich in diesem Jugendstilgebäude. Über 40.000 Zeichnungen hat er geschaffen. Die 8.000 wichtigsten Zeichnungen sowie Poster, Grafiken, Spielzeug, Bücher und Skulpturen werden auf drei Etagen in wechselnden Ausstellungen präsentiert.

d i e    g e d a n k e n   s i n d    f r e i
w e r    k a n n  s i e   e r r a t e n
s i e    f l i e g e n    v o r b e i
w i e   n ä c h t l i c h e   s c h a t t e n
k e i n    m e n s c h  k a n n    s i e w i s s e n
k e i n    j ä g e r    er s c h i e s s e n
m i t     p u l v e r   u n d    b l e i
d i e    g e d a n k e n    s i n d    f r e i

(Tomi Ungerers Lieblingslied)

Zu entdecken sind bitterböse Karikaturen einer dekadenten Gesellschaft, gegen die er vor allem in den USA rebellierte. Aber auch wunderbar feinsinnige, zarte Kinderbücher, teils bildschöne Märchen, teils realistische Warnrufe nach dem Motto: „Schaut her, ich mute auch Euch kleinen Menschen die Wirklichkeit zu.“ Eine Barrikade im Leben ist ihm nach eigener Aussage lieber als ein Stau auf der Autobahn gewesen. Und: Er hat stets alle Barrikaden überwunden.

Seine Schaffenskraft, seine spitzzüngigen Bemerkungen, die bittersüßen Pinselhiebe, brachten ihm den wohlverdienten Erfolg, viele Preise und Prestige. Werbeplakate zum Thema Rassenkonflikt finden sich in seinem Schaffen ebenso wie satirische Serien, mit denen er sich über die amerikanische High Society lustig macht. Menschen werden zu Tieren, hübsche Damen bekommen Tiermäuler, die sie sich lästernd zerreißen. Die Frage eines Kunstexperten ist die beste Beschreibung: Ist Tomi Ungerer ein Zeichenmeister oder Meisterzeichner? Beides!

Pendler zwischen Gestern und Morgen
Bis zum Tod wohnte Tomi Ungerer wieder im selben Haus in Straßburg, in dem er aufgewachsen war. Danach gefragt, wie er sich dort fühle, antwortete er: „Ich bin in den letzten Jahrzehnten ein echter Ire geworden, aber hier in diesem Haus zu sein, bedeutet mir viel. Straßburg ist eine Rückkehr in die Vergangenheit, Irland so was wie eine Rückkehr in die Zukunft. Ich pendle zwischen beiden hin und her.“ 

Da ist es auch verständlich, dass seine Familie eine ungewöhnliche Entscheidung traf: Die Asche des verstorbenen Künstlers wurde aufgeteilt zwischen Straßburg und Irland.

Bei der bewegenden Abschiedszeremonie für Tomi im Straßburger Münster wurde noch ein ganz besonderer Herzenswunsch des verstorbenen Künstlers erfüllt: Sein Freund, der elsässische Liedermacher Roger Siffer, sang im vollbesetzten Straßburger Münster Tomis Lieblingslied: „Die Gedanken sind frei!“ Ein Gänsehautmoment. Lediglich in einem Punkt sollte er nicht recht behalten. Einige Monate vor seinem Tod hatte er in einer Fernsehsendung gewitzelt: „Ich glaube, ich komme zu spät zu meiner Beerdigung ...“

Tomi Ungerer wird fehlen, aber mit seinen Gedanken und seinem riesigen Werk weiterleben.

Von Horst Koppelstätter